Krise und die Vorstellung von der stabilen Welt
Die Welt
fällt aus der Form. Es ist für jeden sichtbar: Auf den Strassen rollen die
Panzer, die Menschen versammeln sich auf den Plätzen und die neue Führung
stürmt den Palast. Etwas ist in das Leben der Menschen eingebrochen und hat das
sichere Gefühl vom Vortag mitgerissen. Die alte Ordnung ist dahin, ihre Rituale
wirken nun seltsam fremd und man fühlt sich in ihnen nicht mehr „Zuhause“.
In diesen Tagen wird ein jeder zum Zeitungsleser, weil die Hoffnung besteht
zwischen den Zeilen ein Bild von der neuen Welt zu erkennen. Der eifrigste
Leser ist der Händler, da er als homo
oeconomicus nicht mehr weiß, was ihm nutzt. Als einer der ersten sieht er bereits, was die Regierung noch versucht zu
bestreiten: das Ende der Stabilität. Er vertagt die neuen Bestellungen, hortet sein Bargeld und hält das weitere
Vorgehen offen. Nicht lange und die Märkte brechen zusammen, weil auch andere
Unternehmer unter dem gleichen Informationsproblem leiden. Transparenz und Prognostizierbarkeit sind in den Wirren des Wandels verloren
gegangen. Das Wort der Krise macht die Runde und selbsternannte Experten
zeichnen ein düsteres Zukunftsbild. Nicht lange und „die Welt (...) hat sich
dem Bild gefügt, das man sich von ihr gemacht hat, und das Bild hat in einer
Welt seine Bestätigung gefunden, der sich das Bild aufgeprägt hat.“
So wird die
Welt erst durch ihrer Repräsentation zu einer krisenhaften, denn „wenn die Idee
als Symbol repräsentiert wird, erhält sie Existenz, wird sie wirksam“.
Der Gedanke an die Krise erodiert die stabilen Erwartungen der Menschen. Was
vorher mit Sicherheit bestimmt werden konnte, - da es immer schon so war und
deshalb auch weiterhin so sein wird, - kann angesichts des tiefgreifenden
Wandels keiner mehr mit voller Überzeugung
postulieren. Die Entropie nimmt zu und die Deutungsmacht der
Institutionen ab. Würde
man in solch einer Welt noch das Bett verlassen? Niklas Luhmann bemerkt
treffenderweise, dass wer morgens aus dem Bett steigt, in der Regel ein
Mindestmaß an Zutrauen in seine eigenen Erwartungen hat.
Doch wie kann man stabile Erwartungen in unsicheren Zeiten hegen? Wie gelingt
es Komplexität in einem krisenhaften System zu reduzieren? Wie kann man in einer
fremd gewordenen Welt vertrauen?
Die Antwort
scheint banal: weil man gar nicht anders kann. Denn „eine unvermittelte
Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus.“ Man müsste verrückt werden und mancher wird das auch in Krisenzeiten.
Dass sich Menschen
während Krisen in Gemeinschaften sozial binden, ist trotzdem eine „höchst
merkwürdige Leistung“.
Erklärbar wird sie nur, wenn man wie Popitz davon ausgeht, dass der Mensch
unter einem Zwang „sozialer Plastizität“ steht. Sich-selbst-Feststellen bedarf
des Sich-Gegenseitig-Feststellens; oder so: Zur Bestimmung meiner Position
brauche ich die anderen als Fixpunkte. Menschen müssen daher ihrem Miteinander
Formen geben, damit ihre Vergesellschaftung als Orientierung funktionieren kann.
Gemeinsam rufen sich die Mitglieder der Gemeinschaft zu, was sie richtiges oder
falsches Denken halten und prägen so im Sinne Durkheims eine kollektive
Vorstellung bzw. nach Fleck einen Denkstil aus, der die Komplexität auf erkennbare Formen reduziert. Den Mitgliedern liefert
die Institution somit „die Kategorien, in denen sie
denken, setzt den Rahmen für ihr Selbstbild und legt Identitäten fest."
Könnte man aber
behaupten, dass Institutionen in der Krise obsolet werden, da sie genau diese
Orientierungsfunktion verlieren? Wie viel zählt während einer Hungersnot was
mir die anderen zurufen? Ist nicht der Hunger stärker als die Gemeinschaft?
Mary
Douglas argumentiert, dass Hungersnöte ebenfalls ein Notsystem ausbilden.
Institutionen sind also nicht absent, denn ihre Kategorien entscheiden über
Leben und Tod. "Eine Gemeinschaft kann ihre vorausbestimmten Opfer die
Hauptlast einer Krise tragen lassen und ihre Allokationsprobleme lösen, indem
sie die Entscheidung ihren Institutionen überläßt, aber das geht nur, wenn sie
diese Institutionen zuvor mit Legitimität ausgestattet hat."
D.h., die gleichen Kategorien (Alter, soziale Stellung, Geschlecht etc.), die
vor der Krise institutionalisiert waren, greifen auch in den prekären Zeiten
der Gemeinschaft als Formen der Entscheidungsfindung. Wenn also in einem
Rettungsboot die Wasservorräte nur für vier Personen reichen, dann muss bei
einer Gruppe von sechs Überlebenden eine Entscheidung darüber gefällt werden,
wer von ihnen nicht verproviantiert wird. Dieses moralische Dilemma kann kein
Gruppenmitglied lösen, deshalb lässt man die Institution entscheiden. Je nach
kulturellem Kontext wird das Urteil unterschiedlich ausfallen, aber es wird
sich stets nach den zuvor institutionalisierten Kategorien richten. Einem
amerikanischen Präsidenten hilft man wohl eher, meint Mary Douglas, genauso wie
ein Brahamane in Indien wahrscheinlich bessere Überlebenschancen auf dem Boot
hätte, als ein Angehöriger der untersten Kaste. Nach der Krise nehmen die
Überlebenden ihre Opferrolle als folgerichtiges Krisenelement an. Damit
bestätigen sie wiederum die soziale Ordnung.
Diese
Überlegungen beruht aber auf der Prämisse, dass die Menschen ihre Institutionen
legitimiert haben. Legitimation ist ein rares Gut, welches in pluralistischen
Gesellschaften „stets prekär“ ist. Niklas Luhmann fragt daher zu Recht: „Wie ist es möglich, wenn nur wenige
entscheiden, die faktische Überzeugung von der Richtigkeit oder verbindlichen
Kraft dieses Entscheidens zu verbreiten?“
Und er liefert eine konterintuitive Antwort: Die Akzeptanz der getroffenen
Entscheidungen bedarf überhaupt nicht der individuellen Zustimmung. Das mag
zunächst verwirren, denn man ist in der Regel der Überzeugung, in seinem Leben
nur dem zugestimmt zu haben, von dem man auch selbst überzeugt war. Aber schon
ein Blick in den Bundestag macht deutlich: Das kann eigentlich so keiner
gewollt haben. Tatsächlich ist laut Luhmann die politische Wahl eben nicht die
Auslese der besten Repräsentanten für die zu vergebenen politischen Ämter,
sondern eine Ausdifferenzierung des politischen Systems. Ein Verfahren also,
dass den Einzelnen dazu bringt Entscheidungsmotive zu eliminieren. So
absorbieren Wahlen z.B. Protestmotivationen, da sie eine plausible
Handlungsalternative zum Steine werfen bieten. Wenn ich also in meinem Verdruss
und aus Protest über die aktuelle politische Lage die Grauen Panther wähle, bin ich mit meinem Wahlverhalten immer noch
im Verfahren der politischen Wahl aufgehoben. Denn ich bekräftige mit meinem
energischen Kreuz für eine Gerontokratie nicht nur meine Protestabsichten,
sondern vor allem das politische System. Legitimität erzeugen Wahlen also
höchstens für die politische Institution.
Die Form
des Verfahrens induziert die Anerkennung der Entscheidung, in dem sie die
individuelle Überzeugung in eine allgemeine Akzeptanz überführt. Das Verfahren
ist bei Luhmann begrifflich weit geführt und lässt sich auf drei Prämissen
herunterbrechen: Erstens muss es durch Rollentrennung und soziale Normen als
Handlungs- und Kommunikationssystem institutionalisiert sein. Es muss zweitens
in seinem Ablauf autonom sein, um eine eigene Verfahrensgeschichte ausbilden zu
können und drittens Raum für die Austragung von Konflikten bieten. Dann wird es
für den Einzelnen attraktiv an den sozialen Rollen mitzuwirken, die das
Verfahren bietet. So bald er sich in das Verfahren verstrickt und Teil des
Rollenspiels wird, gibt er bestimmte Verhaltensalternativen auf, die nicht mit
seiner Verfahrensrolle in Übereinstimmung gebracht werden können. Die
Komplexität der Entscheidungssituation nimmt also ab, weil alle Beteiligten ihr
Verhalten mit dem Verfahren abstimmen und ihr Handeln kalkulierbarer machen.
Dadurch finden „Verfahren [...] eine Art generelle Anerkennung, die unabhängig
ist vom Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung, und die Anerkennung zieht
die Hinnahme und Beachtung verbindlicher Entscheidung nach sich.“
Der Verfahrenausgang wird damit für den Einzelnen psychisch konsumerabel, weil
es ein generalisiertes Ergebnis darstellt. Die heimliche Logik des Verfahrens
ist also „durch die Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit
einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren zu können.“ Die Ablösung von der Selbstdarstellung und die Annahme vorkonfigurierter
Verfahrensrollen ermöglicht also nicht nur das Austragen von Konflikten,
sondern auch die Beilegung der selbigen.
Lässt sich
die Krise etwa mit Verfahren überwinden? Hansjörg Siegenthaler stellt fest,
dass „die Krise zunächst nicht dadurch beigelegt wird, dass die Welt realiter
in Ordnung gebracht würde, sondern ebenso, dass man sie in einer Weise in die
Ordnung des Denkens rückt, die dem Einzelnen den Ort wieder klar macht, den er
in ihr hat [...]“. Die Welt muss wieder in eine Form gebracht werden, denn Form heißt
„Gleichgewicht“. Dafür
braucht es kein Altruismus, sondern Kommunikation. Im Gespräch orientieren sich
die Orientierungslosen und im Austausch finden sie halt in gemeinsamen
Erfahrungen oder geteilten Zukunftsperspektiven. Es entsteht ein neues Selbst-
und Weltverständnis, das stabilisierend in die Gesellschaft rückwirkt. Indem
die Menschen auf die Straße laufen, sich unterhalten und die konkreten
Krisenphänomene ansprechen, bringen sie gemeinsame Erfahrungen auf Begriffe.
Der Austausch bewirkt „ein Prozeß vertrauensstiftender Restabilisierung in
einer Sequenz und in einem Wirkungszusammenhang von Handlungen, die nicht auf
Stabilität abzielen, sondern diese als eine nicht beabsichtigte Handlungsfolge
herbeiführen.“ Verkürzt gesagt: Wenn wir miteinander über die Krise reden, dann befinden wir
uns bereits in der Phase der Stabilisierung. In dem Moment des Gesprächs stehen
wir einander gegenüber und können auf „die Gleichzeitigkeit der
korrespondierenden Handlungen“ bauen. Mit der Zeit und erfolgreicher Kooperation in Kopräsenz erwächst eine
unterstellte Verlässlichkeit auch in Abwesenheit des Anderen, die man ihm
aufgrund positiver gemeinsamer Erfahrungen zuschreibt. „Aber Vertrauen ist
keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen,
die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft“,
ließe sich mit Luhmann einwenden. In unseren vertrauensvollen Erwartungen
spiegelt sich folglich die Stabilität der sozialen Ordnung. Denn es bleibt eine
riskante Vorleistung, die wir nur gewillt sind zu erbringen, wenn wir
Zuversicht in die Kontinuität der wahrgenommenen Welt haben.
Doch woher kommt die Zuversicht, wenn wir der Welt immer nur mittelbar
entgegentreten können? Sie generiert sich aus der Interpretationsleistung an
Symbolen und fasst die Dinge in „Symbolkomplexe“ zusammen, die kontrollierbar werden.
In ihren symbolischen, emblematischen und rituellen Ausdrucksmitteln
repräsentieren sie und formen die Ordnungsschemata und ihre Deutungen.
Hier
schließt sich der Kreis, denn in den Repräsentationen manifestiert sich nicht
nur die Krise, sondern auch ihre Stabilisierung. Da eine symbolische Form für
jeden Menschen in jeder Situation Bedeutung generieren kann, findet eine Stabilisierung
nur statt, wenn meine Vorstellung von einer stabilen Welt ebenfalls von meinen
Mitmenschen geteilt wird. Ob man das nun Leitidee, Verfahren oder
Regelvertrauen nennt: nur im Gemeinsamen lässt sich Stabiles etablieren, und
nur im Gespräch lässt sich Gemeinsames erkennen.