Sonntag, 24. Juli 2011

»Isch bin Hermannplatz« - Der Raum schlägt zurück


Es ist wieder passiert. Die Theorie schlägt zurück und drängt sich in mein Alltagsleben. Es ist mit ihr wie mit Fahrschulautos, die man überall sieht, so bald man den Führerschein macht. Nun sitzt sie mir in der U-Bahn gegenüber. Sie hat ein lustig bemaltes Gesicht in dem etwas rechts über der Oberlippe ein metallenes Popelpiercing glitzert. Nein, ich hatte sie mir nicht in weißen Stiefeln und mit langen Fingernägeln vorgestellt, als ich von ihr las. Doch als sie ihr mit Strasssteinchen besetztes Telefon herausholte und dem Anrufer ihre Identität verriet, fiel ich aus allen Wolken. »Isch bin Hermannplatz. Ja, was? ... Na, Hermannplatz. Ok. Bis gleisch.« Da war sie: die Raumtheorie. In nur so wenigen Worten war alles gesagt: »Ich bin Hermannplatz.« So klar und deutlich hatte ich es in keinem der verschrobelten Theorietexte gelesen.
Dort las ich von »institutionalisierte Figurationen auf symbolischer und materieller Basis, die das soziale Leben formen und die im kulturellen Prozess hervorgebracht werden«. Das kann verstehen wer will. Doch wie verstand es meine schwarzhaarige Schönheit in der U7?

Ich glaube, ihr wurde in einem Moment absoluter Klarheit bewusst, dass die Dinge, die Menschen und ihre Handlungen in ihrer Anordnung den Raum bilden. In dem transitorischen Vehikel Untergrundbahn konnte die geheimnisvolle Dame eine grundlegende metaphysische Erkenntnis erzielen. Raum heißt sozialer Raum. Genauer gesagt: er ist Prozess. Raum finden wir nicht einfach vor, sondern gestalten ihn mit. Wo ich die räumlichen Grenzen ziehe, hängt ganz entscheidend von meiner Wahrnehmung und meiner Erfahrung ab. Denn ein homogener Raum, der für alle und jeden gleich wäre, muss erst noch gefunden werden.
Die U-Bahn-Begegnung zeigte mir: Es gibt mehr als einen Raum! Deshalb müsste der Begriff eigentlich immer im Plural stehen. Ich war ja schließlich auch Hermannplatz. Zumindest stieg ich dort zu. Aber bin ich wirklich Hermannplatz? Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall bin ich Rosenthaler Platz, denn dafür trinke ich zu wenig Latte macchiato. Gerne wäre ich mal Friedrich-Wilhelm-Platz, aber die Zeiten sind ja vorbei. Ich denke, ich bin wohl eher so Wittenbergplatz: so etwas neutrales halt, aber ganz gut angebunden.
Mein Gegenüber war hingegen völlig Hermannplatz. Ich glaube, hätte ich sie gefragt, ob sie gerne Hermannplatz ist, dann hätte sie das sicherlich bejaht. Wie las ich es bei Martina Löw noch so lehrreich:
»Identitätszuschreibung erfolgt über die Eingliederung in Räume sowie umgekehrt Raum nicht mehr von der Aktivität des Konstituierens und damit von einer Handlungspraxis losgelöst werden kann.«
Doch weit mehr als bei Martina erfährt man über den Raum »Hermannplatz« in den schmissigen Liedern von Bass Sultan Hengzt. Ich glaube fast, er hatte eingehend über Raumtheorie kontempliert, als er folgende Zeilen dichtete:

»Du bist hier Fehl am Platz | Ich sehs in deine Augen du hast schiss vorm Hermannplatz Nutte | Du hast vor den Seitenstraßen Angst | Ich mach dass du wie ne Seifenblase platzt«.

Unvergleichlich macht Fabio Ferzan Cataldi alias Bass Sultan Hengzt ganz deutlich wie die Handlungspraxis auf die Konstitution des Raumes und auf die Identitätszuschreibung der Akteure wirkt. Der Hermannplatz wird zum Akteur vor dem man sich fürchten muss. Die Platzsituation in Neukölln ist der Agens und das Individuum der Patiens. Und wenn es Stress gibt, dann holt Hermannplatz noch seine Seitenstraßen und dann geht’s ab. Man möchte da wirklich nicht aussteigen. Es sei denn man kennt Bass Sultan Hengzt. Ich finde, der Deutschrap wird in seiner Tragfähigkeit für die soziologische Theorie unterschätzt. Aber das wäre ein anderer Beitrag.

Schließlich ist noch zu berichten, dass meine geheimnisvolle Schönheit in Neukölln ausstieg. Kurz darauf erhielt ich einen Anruf von meiner Verabredung mit der Nachfrage, wo ich denn bleibe. Ich versicherte, dass es nicht mehr lange dauern könnte. »Ich bin ja schließlich schon Neukölln.«

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen