Mittwoch, 12. Januar 2011

Vorbeigefahren


„Die Blumen am Feldrain sind keine Blumen mehr, sondern Farbflecken, oder vielmehr rote oder weiße Streifen; es gibt keinen Punkt mehr, alles wird Streifen; die Getreidefelder werden zu langen gelben Strähnen; die Kleefelder erscheinen wie lange grüne Zöpfe; die Städte, die Kirchtürme und die Bäume führen einen Tanz auf und vermischen sich auf eine verrückte Weise mit dem Horizont […].“
– Victor Hugo (1837)


alle Fotos von Lasse Müller

Victor Hugos Beschreibung der Topografiewahrnehmung bei der Zugreise fand ich in Wolfgang Schivelbuschs Geschichte der Eisenbahnreise[1]. Schivelbusch beschreibt darin unter anderem wie sich im 19. Jahrhundert die Sicht der Menschen auf die Welt im Reisen verändert hat. Der dort entfaltete Begriff des panoramatischen Sehens ist ein Beispiel für diese Transformation. Durch die schnelle und konstante Bewegung der Eisenbahn rollt sich die Landschaft vor unserem Auge aus und wir erhalten über diese einen Überblick. Das Detail weicht dem »Großen Ganzen« der Umgebung. Der Vordergrund geht verloren und abstrahiert sich. Beim Reisen per pedes oder mit einer Kutsche ist das Individuum Teil der Vordergrundes und des landschaftlichen Gesamtraumes, während er sich bei der Bahnreise durch die enorme Geschwindigkeit aus diesem Raum begibt. Es schiebt sich eine „fast wesenlose Schranke“ zwischen den Reisenden und dem Raum.[2]

Inspiriert durch diese Ausführungen stellte ich mir die Frage, ob sich Schivelbuschs Erkenntnisse im Reisen mit dem Auto wiederfinden lassen. Auch wenn die Bewegung des Automobils nicht so absolut vorgegeben ist, wie das bei der Eisenbahn der Fall ist, so kann man doch von einem panoramatischen Blick beim Autofahren sprechen. Das Auto in seiner modernen Entwicklung und die Fahrt auf Autobahnen trennen den Reisenden vom Transitraum. Auch wenn man prinzipiell beim Autofahren mehr Einflussmöglichkeiten auf die Perspektive hat und die Bewegung stoppen kann, ist der Blick beim Fahren mit dem der Eisenbahnreise zu vergleichen.

In der Photographie sah ich eine Möglichkeit diesen Blick festzuhalten, der sonst nur in der Bewegung selbst erfahrbar ist. Die Kamera machte mir bewusst, was ich gar nicht mehr hinterfrage, da ich daran schon gewöhnt bin: das schnelle, kontinuierliche Aufeinanderfolgen von Reizen und das Ineinanderfließen von Bildern, die für sich kaum mehr wahrnehmbar sind. Im Vordergrund sind sie verschwommen und nicht nachfolgbar und in der Ferne zieht langsam das Panorama vorbei.
Den Bildern folgte eine weitere, eigentliche banale Erkenntnis. Sie machten mir klar, dass jeder Raum zeitliche und lokale Eigenheiten besitzt, die trotz der abstrahierenden durch die Bewegung verursachten Verzerrungen erkennbar bleiben, ja geradezu destilliert werden. Farbflecken auf den Photographien, die aus der individuellen Farblichkeit des Ortes resultieren, geben Hinweise auf die Vegetation und Jahreszeit. Linien und Strukturen die in der Bewegung zu Formen verfremdet werden deuten die Topografie und Architektur eines Ortes an.

Die Bilder der Serie zeigen Mittelfinnland im Sommer. Die festgehaltenen Orte sind vom sommerlich saftigen Grün der alles dominierenden Wälder bestimmt. Selbst die Tausend Seen sind oft nur durch einen grünen „Vorhang“ wahrnehmbar. Die Wälder verdecken die Sicht auf die Seen. Trotz der wilden Vegetation zeigen sich im Raum zwischen dem Panorama und dem abstrahierten Vordergrund immer wieder Spuren der Zivilisation: Strommasten, Bushaltestellen, Häuser und manchmal sieht man in diesem spärlich besiedelten Land auch Menschen.

Beim Vorbeifahren wirkt dies wie eine Zusammenfassung der kulturellen Gegebenheiten und Eigenheiten des Landes. Die Reisewahrnehmung filtert diese scheinbar heraus – warum scheinbar? Man muss immer noch anhalten und aus dem Auto aussteigen um das Land und die Menschen die darin Leben wirklich kennenzulernen. Zum Glück ist dies mit dem Auto fast immer möglich.


[1] Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 54.
[2] Schivelbusch, S. 61.