Mittwoch, 29. April 2015

Krise und die Vorstellung von der stabilen Welt


Die Welt fällt aus der Form. Es ist für jeden sichtbar: Auf den Strassen rollen die Panzer, die Menschen versammeln sich auf den Plätzen und die neue Führung stürmt den Palast. Etwas ist in das Leben der Menschen eingebrochen und hat das sichere Gefühl vom Vortag mitgerissen. Die alte Ordnung ist dahin, ihre Rituale wirken nun seltsam fremd und man fühlt sich in ihnen nicht mehr „Zuhause“. In diesen Tagen wird ein jeder zum Zeitungsleser, weil die Hoffnung besteht zwischen den Zeilen ein Bild von der neuen Welt zu erkennen. Der eifrigste Leser ist der Händler, da er als homo oeconomicus nicht mehr weiß, was ihm nutzt. Als einer der ersten sieht er bereits, was die Regierung noch versucht zu bestreiten: das Ende der Stabilität. Er vertagt die neuen Bestellungen, hortet sein Bargeld und hält das weitere Vorgehen offen. Nicht lange und die Märkte brechen zusammen, weil auch andere Unternehmer unter dem gleichen Informationsproblem leiden. Transparenz und Prognostizierbarkeit sind in den Wirren des Wandels verloren gegangen. Das Wort der Krise macht die Runde und selbsternannte Experten zeichnen ein düsteres Zukunftsbild. Nicht lange und „die Welt (...) hat sich dem Bild gefügt, das man sich von ihr gemacht hat, und das Bild hat in einer Welt seine Bestätigung gefunden, der sich das Bild aufgeprägt hat.“

So wird die Welt erst durch ihrer Repräsentation zu einer krisenhaften, denn „wenn die Idee als Symbol repräsentiert wird, erhält sie Existenz, wird sie wirksam“. Der Gedanke an die Krise erodiert die stabilen Erwartungen der Menschen. Was vorher mit Sicherheit bestimmt werden konnte, - da es immer schon so war und deshalb auch weiterhin so sein wird, - kann angesichts des tiefgreifenden Wandels keiner mehr mit voller Überzeugung  postulieren. Die Entropie nimmt zu und die Deutungsmacht der Institutionen ab. Würde man in solch einer Welt noch das Bett verlassen? Niklas Luhmann bemerkt treffenderweise, dass wer morgens aus dem Bett steigt, in der Regel ein Mindestmaß an Zutrauen in seine eigenen Erwartungen hat. Doch wie kann man stabile Erwartungen in unsicheren Zeiten hegen? Wie gelingt es Komplexität in einem krisenhaften System zu reduzieren? Wie kann man in einer fremd gewordenen Welt vertrauen?

Die Antwort scheint banal: weil man gar nicht anders kann. Denn „eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus.“ Man müsste verrückt werden und mancher wird das auch in Krisenzeiten.
Dass sich Menschen während Krisen in Gemeinschaften sozial binden, ist trotzdem eine „höchst merkwürdige Leistung“. Erklärbar wird sie nur, wenn man wie Popitz davon ausgeht, dass der Mensch unter einem Zwang „sozialer Plastizität“ steht. Sich-selbst-Feststellen bedarf des Sich-Gegenseitig-Feststellens; oder so: Zur Bestimmung meiner Position brauche ich die anderen als Fixpunkte. Menschen müssen daher ihrem Miteinander Formen geben, damit ihre Vergesellschaftung als Orientierung funktionieren kann. Gemeinsam rufen sich die Mitglieder der Gemeinschaft zu, was sie richtiges oder falsches Denken halten und prägen so im Sinne Durkheims eine kollektive Vorstellung bzw. nach Fleck einen Denkstil aus, der die Komplexität auf erkennbare Formen reduziert. Den Mitgliedern liefert die Institution somit „die Kategorien, in denen sie denken, setzt den Rahmen für ihr Selbstbild und legt Identitäten fest."

Könnte man aber behaupten, dass Institutionen in der Krise obsolet werden, da sie genau diese Orientierungsfunktion verlieren? Wie viel zählt während einer Hungersnot was mir die anderen zurufen? Ist nicht der Hunger stärker als die Gemeinschaft?

Mary Douglas argumentiert, dass Hungersnöte ebenfalls ein Notsystem ausbilden. Institutionen sind also nicht absent, denn ihre Kategorien entscheiden über Leben und Tod. "Eine Gemeinschaft kann ihre vorausbestimmten Opfer die Hauptlast einer Krise tragen lassen und ihre Allokationsprobleme lösen, indem sie die Entscheidung ihren Institutionen überläßt, aber das geht nur, wenn sie diese Institutionen zuvor mit Legitimität ausgestattet hat." D.h., die gleichen Kategorien (Alter, soziale Stellung, Geschlecht etc.), die vor der Krise institutionalisiert waren, greifen auch in den prekären Zeiten der Gemeinschaft als Formen der Entscheidungsfindung. Wenn also in einem Rettungsboot die Wasservorräte nur für vier Personen reichen, dann muss bei einer Gruppe von sechs Überlebenden eine Entscheidung darüber gefällt werden, wer von ihnen nicht verproviantiert wird. Dieses moralische Dilemma kann kein Gruppenmitglied lösen, deshalb lässt man die Institution entscheiden. Je nach kulturellem Kontext wird das Urteil unterschiedlich ausfallen, aber es wird sich stets nach den zuvor institutionalisierten Kategorien richten. Einem amerikanischen Präsidenten hilft man wohl eher, meint Mary Douglas, genauso wie ein Brahamane in Indien wahrscheinlich bessere Überlebenschancen auf dem Boot hätte, als ein Angehöriger der untersten Kaste. Nach der Krise nehmen die Überlebenden ihre Opferrolle als folgerichtiges Krisenelement an. Damit bestätigen sie wiederum die soziale Ordnung.

Diese Überlegungen beruht aber auf der Prämisse, dass die Menschen ihre Institutionen legitimiert haben. Legitimation ist ein rares Gut, welches in pluralistischen Gesellschaften „stets prekär“ ist. Niklas Luhmann fragt daher zu Recht: „Wie ist es möglich, wenn nur wenige entscheiden, die faktische Überzeugung von der Richtigkeit oder verbindlichen Kraft dieses Entscheidens zu verbreiten?“ Und er liefert eine konterintuitive Antwort: Die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen bedarf überhaupt nicht der individuellen Zustimmung. Das mag zunächst verwirren, denn man ist in der Regel der Überzeugung, in seinem Leben nur dem zugestimmt zu haben, von dem man auch selbst überzeugt war. Aber schon ein Blick in den Bundestag macht deutlich: Das kann eigentlich so keiner gewollt haben. Tatsächlich ist laut Luhmann die politische Wahl eben nicht die Auslese der besten Repräsentanten für die zu vergebenen politischen Ämter, sondern eine Ausdifferenzierung des politischen Systems. Ein Verfahren also, dass den Einzelnen dazu bringt Entscheidungsmotive zu eliminieren. So absorbieren Wahlen z.B. Protestmotivationen, da sie eine plausible Handlungsalternative zum Steine werfen bieten. Wenn ich also in meinem Verdruss und aus Protest über die aktuelle politische Lage die Grauen Panther wähle, bin ich mit meinem Wahlverhalten immer noch im Verfahren der politischen Wahl aufgehoben. Denn ich bekräftige mit meinem energischen Kreuz für eine Gerontokratie nicht nur meine Protestabsichten, sondern vor allem das politische System. Legitimität erzeugen Wahlen also höchstens für die politische Institution.
Die Form des Verfahrens induziert die Anerkennung der Entscheidung, in dem sie die individuelle Überzeugung in eine allgemeine Akzeptanz überführt. Das Verfahren ist bei Luhmann begrifflich weit geführt und lässt sich auf drei Prämissen herunterbrechen: Erstens muss es durch Rollentrennung und soziale Normen als Handlungs- und Kommunikationssystem institutionalisiert sein. Es muss zweitens in seinem Ablauf autonom sein, um eine eigene Verfahrensgeschichte ausbilden zu können und drittens Raum für die Austragung von Konflikten bieten. Dann wird es für den Einzelnen attraktiv an den sozialen Rollen mitzuwirken, die das Verfahren bietet. So bald er sich in das Verfahren verstrickt und Teil des Rollenspiels wird, gibt er bestimmte Verhaltensalternativen auf, die nicht mit seiner Verfahrensrolle in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Komplexität der Entscheidungssituation nimmt also ab, weil alle Beteiligten ihr Verhalten mit dem Verfahren abstimmen und ihr Handeln kalkulierbarer machen. Dadurch finden „Verfahren [...] eine Art generelle Anerkennung, die unabhängig ist vom Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung, und die Anerkennung zieht die Hinnahme und Beachtung verbindlicher Entscheidung nach sich.“ Der Verfahrenausgang wird damit für den Einzelnen psychisch konsumerabel, weil es ein generalisiertes Ergebnis darstellt. Die heimliche Logik des Verfahrens ist also „durch die Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren zu können.“ Die Ablösung von der Selbstdarstellung und die Annahme vorkonfigurierter Verfahrensrollen ermöglicht also nicht nur das Austragen von Konflikten, sondern auch die Beilegung der selbigen.

Lässt sich die Krise etwa mit Verfahren überwinden? Hansjörg Siegenthaler stellt fest, dass „die Krise zunächst nicht dadurch beigelegt wird, dass die Welt realiter in Ordnung gebracht würde, sondern ebenso, dass man sie in einer Weise in die Ordnung des Denkens rückt, die dem Einzelnen den Ort wieder klar macht, den er in ihr hat [...]“. Die Welt muss wieder in eine Form gebracht werden, denn Form heißt „Gleichgewicht“. Dafür braucht es kein Altruismus, sondern Kommunikation. Im Gespräch orientieren sich die Orientierungslosen und im Austausch finden sie halt in gemeinsamen Erfahrungen oder geteilten Zukunftsperspektiven. Es entsteht ein neues Selbst- und Weltverständnis, das stabilisierend in die Gesellschaft rückwirkt. Indem die Menschen auf die Straße laufen, sich unterhalten und die konkreten Krisenphänomene ansprechen, bringen sie gemeinsame Erfahrungen auf Begriffe. Der Austausch bewirkt „ein Prozeß vertrauensstiftender Restabilisierung in einer Sequenz und in einem Wirkungszusammenhang von Handlungen, die nicht auf Stabilität abzielen, sondern diese als eine nicht beabsichtigte Handlungsfolge herbeiführen.“ Verkürzt gesagt: Wenn wir miteinander über die Krise reden, dann befinden wir uns bereits in der Phase der Stabilisierung. In dem Moment des Gesprächs stehen wir einander gegenüber und können auf „die Gleichzeitigkeit der korrespondierenden Handlungen“ bauen. Mit der Zeit und erfolgreicher Kooperation in Kopräsenz erwächst eine unterstellte Verlässlichkeit auch in Abwesenheit des Anderen, die man ihm aufgrund positiver gemeinsamer Erfahrungen zuschreibt. „Aber Vertrauen ist keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft“, ließe sich mit Luhmann einwenden. In unseren vertrauensvollen Erwartungen spiegelt sich folglich die Stabilität der sozialen Ordnung. Denn es bleibt eine riskante Vorleistung, die wir nur gewillt sind zu erbringen, wenn wir Zuversicht in die Kontinuität der wahrgenommenen Welt haben. Doch woher kommt die Zuversicht, wenn wir der Welt immer nur mittelbar entgegentreten können? Sie generiert sich aus der Interpretationsleistung an Symbolen und fasst die Dinge in „Symbolkomplexe“ zusammen, die kontrollierbar werden. In ihren symbolischen, emblematischen und rituellen Ausdrucksmitteln repräsentieren sie und formen die Ordnungsschemata und ihre Deutungen.
Hier schließt sich der Kreis, denn in den Repräsentationen manifestiert sich nicht nur die Krise, sondern auch ihre Stabilisierung. Da eine symbolische Form für jeden Menschen in jeder Situation Bedeutung generieren kann, findet eine Stabilisierung nur statt, wenn meine Vorstellung von einer stabilen Welt ebenfalls von meinen Mitmenschen geteilt wird. Ob man das nun Leitidee, Verfahren oder Regelvertrauen nennt: nur im Gemeinsamen lässt sich Stabiles etablieren, und nur im Gespräch lässt sich Gemeinsames erkennen.