Sonntag, 15. Januar 2012

»Der Aufstand der Dinge«

(nach Erhart Kästner: Aufstand der Dinge, Frankfurt/Main 2009)

Lebten wir bisher in einer Welt der Menschen, höchstens noch der Götter, scheint nun Aufruhr nahe. Die Dinge rebellieren. Sie fordern in ganz demokratischem Selbstverständnis ihr Recht auf Mitsprache ein. Bisher hatten wir dies nur in Ansätzen gespürt. Der Herd hat uns schon verfolgt, ist als Ding aufsässig geworden, ganz im Sinne Heideggers, als er uns vor der Haustür zur Umkehr zwang, um uns zu vergewissern, dass er tatsächlich ausgeschaltet ist. Nun werden die Dinge aber immer rücksichtsloser. Der Computer streikt, das Internet funktioniert nicht. Die Dinge stören uns in unserem Alltag. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie nicht zuhanden sind (Heidegger:2006:§15).Was sind wir bloß ohne unsere Dinge, unserem schlafenden 4.Stand? Die Dinge werden sich ihrer Macht über uns bewusst. Allein unser Blick genügte stets, um die Dinge zur Räson zu bringen, was uns die Toy Stories immer wieder balsamartig beruhigend nahebrachten, in manchem gar die ignorante Idee einer Fiktion aufkeimen ließ. In frühen Zeiten haben wir den Klassenkampf mit unserer Umwelt für uns entschieden. Ja, je unbelebter wir unsere Umgebung machten, je stärker wir die Grenze zwischen dem Mensch und allem anderen zogen, umso beherrschbarer schien uns die Welt. Nun, da wir im festen Glauben der Unumstößlichkeit dieser Weltordnung waren, sind wir plötzlich erschrocken darüber, wie weit uns die Dinge über den Kopf gewachsen sind. Die Komplexität der Dingwelt hat uns abgehängt, die Geister in der Maschine, die Maxwell'schen Dämonen, sie alle führen den Aufstand der Dinge an. Wir sehen uns heute noch nicht als Produkte in einem Weltladen namens »Men'R'Us«. Die Propheten unseres Untergangs sind mit Latour & Co. indes längst gefunden. Doch scheint es erstaunlich, wie lange heimliche Befürchtungen über das Unheil schon schwelten. Max Eyth beschreibt in seinem Vortrag über Poesie und Technik von 1924, wie der nackte, wehrlose Mensch nach dem Sündenfall auf Erden weilt. Eine traurige Gestalt, die nur eine Chance in ihrer beschränkten Ausstattung hat.
»Auf Wissen und Können, auf Wort und Werkzeug beruht die Macht, die den nackten, wehrlosen Menschen zum Herrscher über alles Lebende auf Erden gemacht hat.« (Eyth:1924:12)
Gedanklich kaum mehr als einen Fuß breit entfernt, führt Ernst Cassirer diesen Gedanken weiter:
»Der ›Logos‹ selbst, als Ausdruck der eigentümlichen Geistigkeit des Menschen, erscheint somit hier nicht lediglich in ›theoretischer‹, sondern in ›instrumentaler‹ Bedeutung. Und darin liegt zugleich implizit die Gegenthese beschlossen, daß auch in jedem bloß stofflichen Werkzeug, in jedem Gebrauch eines materiellen Dinges im Dienste des menschlichen Willens, die Kraft des Logos schlummert.« (Cassirer:1930:26)
Das war 1930! Mit Wort und Werkzeug »instrumentalisieren« wir uns zum Herrscher der Welt. Um uns die Natur untertänig zu machen, reichen die Wissenschaften – von den frühesten zu den spätesten – und die Technik aus. Überschwänglich feiert in Zeiten des Klimawandels und der sich dem Ende neigenden Ressourcen diesen Siegeszug keiner mehr. Wir wollen ja lieber wieder den Weg zurück in den Schoß der Natur finden, aber selbstbestimmt, 2.0 wenn man so will, user-generated nature. Doch die nächste, vielleicht letzte Kränkung der Menschheit nach Kopernikus, Darwin und Freud lauert in den Dingen, die wir zur Bezwingung der Natur erfunden haben, selbst. Das ist es, was uns Cassirer wohl sagen wollte, wenn er mutmaßte, dass wir den Logos nicht in die Dingwelt pflanzen, sondern ihn dort bereits vorfinden. Die Vorstellung ist beinahe gruselig, dass wir den »schlummernden Logos« der Materie erst geweckt haben. Wir waren alle ein wenig Dr. Frankenstein. Der Verdacht war schon immer gehegt worden, dass diese Narrative nicht aus dem Nichts auf uns herab fielen. Und nun ist die Spirale wohl nicht mehr aufzuhalten? Je mehr wir die Technik vermenschlichen, je intelligenter wir sie machen, umso näher rückt jener Tag, an dem wir hinter unserem Handeln als prozessierbare Mittler verschwinden und die kreativen Knoten Dinge werden – Entitäten im vollkommenen Sinne. Der Aufstand der Dinge ist wohl doch leiser, als das Science Fiction Genre nahelegte.