Freitag, 19. Oktober 2012

Der Mensch, das musternde Wesen

»Von den verschiedenen Betrachtungsweisen der Welt ist eine der interessantesten die, sie sich aus Schemata [patterns, i.O.] zusammengesetzt zu denken.« (Nobert Wiener (1952): Mensch und Menschmaschine, S.15)

Ohne viel Aufhebens meinte neulich, nach Abschluss eines Kennenlerngesprächs, nicht ohne etwas Empörung in der Stimme, jemand zu mir: »Der hat dich ja ganz schön gemustert!« Was der alltägliche Sprachgebrauch an Vokabeln überhört, hinterlässt in schriftlicher Betrachtung ein anhaltendes Staunen – zumindest bei mir. Was meinte die Person damit? Was hat die angezeigte Person denn getan? Was hatte die betroffene Person – also ich – auszuhalten? Ohne Zweifel scheint es eine nicht gänzlich ungewöhnliche Situation gewesen zu sein. Ein Gespräch mit Fragen und Antworten, Denkpausen – gewollt/ungewollt –, kleineren Scharmützeln und Indiskretionen. Hinter dem Begriff der Frage allein steht freilich eine ganze Typologie, die zwischen völliger Belanglosigkeit, Böswilligkeit und Interesse bis Gier vermittelt. In diesem Falle waren es hauptsächlich Nachfragen oder auch Suggestivfragen, die zum einen nur Zur-Schau-Stellung des Wissens, zum anderen eigene Positionierungen aufdecken sollten. Wenngleich kein polizeiliches Verhör, so doch unangenehm.

Was in dieser Situation in nicht allzu diskreter Weise vollzogen wurde, ist aber unser einzig möglicher Zugang zur Welt. Was in der Betrachtung der Dingwelt zu wissenschaftlicher Anerkennung führt, stößt in der Mensch-Mensch-Kommunikation auf Ablehnung, sobald Akribie und Konsequenz augenscheinlich werden. Wir mustern. Egal in welcher Situation versuchen wir die Wiederholung ausfindig zu machen, die in unsere bisher gemachten Erfahrungen einzuordnen ist. Der Philosoph Oswald Schwemmer erklärte dazu sinngemäß, dass wir die Welt immer durch das Muster unserer gemachten Erfahrungen hindurch wahrnehmen. Wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, sprechen, etc. also immer das mit, was wir schon gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt, gesprochen, etc. haben. Was für ein Ballast! Es ist informationstechnologisch kaum vorstellbar, was wir dabei im Arbeitsspeicher parat haben müssten. Doch gemeint scheint hier eher das permanente Aktualisieren, Rejustieren oder Zerstören einer sinnstiftenden Ordnung in der Art einer am Ende doch irgendwie abstrakteren Form zu sein. Die körperlichste dieser internen Musterungen ist seit Jahren en vogue und trägt deshalb gerne neudeutsche Namen wie: tacit knowledge oder embodiment cognition. Unsere Erfahrungen sedimentieren also auch in körperlichem, zumindest wohl unbewusstem Wissen, das Handlungskompetenz fast in Form von Reflexen habitualisiert. Unsere interne Musterung (oder sollte man schon Maserung sagen?) ist nicht ausweglos. Immer wieder können wir lernen, uns neu zu strukturieren. Eigentlich erhält dieses System nur in seiner Bewegung Stabilität. Ohne steten Zustrom an Instanziierungen, also Aktualisierungen von etwas, und dem Erkennen deren Abweichungen verlieren wir auf wundersame Weise unsere Prägung. Vielleicht nicht schnell genug für ein Menschenleben, wenn es um das Fahrradfahren oder ähnliche in jungen Jahren erworbene Einprägungen geht, aber in jedem Falle schnell genug, um an Können in ausgefeilteren Techniken einzubüßen, die permanentes Training erfordern. Welch pathologische Ausprägungen unsere Musterungen annehmen können, belegen nicht nur wahnwitzige Auswüchse des Kraftsports, bei denen es scheint, als ob die Betroffenen außer Stoßen und Reißen keine andere Körpertechnik mehr ausführen könnten. Die Psychopathologie des Musterns per se inszenierte Ron Howard in „A Beautiful Mind“ am Beispiel des mathematischen Spieltheoretikers John Forbes Nash, der in der filmischen Adaption der Realperson Russell Crowe zu entsprechen versucht. Nashs Psyche scheitert im Film an den zwangsläufig fehlgehenden Versuchen, alle innerweltlichen Erscheinungen in mathematischen Mustern zu beheimaten. Wie nahe diese Exzentrik trotzdem unserem alltäglichen Blackout ist, wenn Welt und Vorstellung nicht mehr kongruent sind, haben vielfältigste Experimente belegt. Allein das Fehlen eines akustischen Signals (Motorgeräusch) zu einem als zugehörig eingestuften visuellen Signal (fahrendes Auto) kann zum Totalversagen unserer Handlungskompetenz führen. Nur kleine Dosen der Rejustierung unserer internen Landkarte sind also verdaubar, ohne das gesamte Weltbild aus den Angeln zu heben. Möglicherweise sind bestimmte vor-/frühkindliche Prägungen besonders dafür geeignet, wobei sich die Forscher bis heute darüber streiten, ob sie nun genetisch oder sozial vererbt werden – z.B. die Chromakartierung unseres Hörens in Oktaven –, im Falle einer notwendigen Remusterung, zu Systemabstürzen zu führen.

Letztlich wird deutlich, dass der Mensch als musterndes Wesen, also indem er seine Welt in Muster gliedert und wahrnimmt, sich selbst Muster gibt, die wiederum die Welt (be-)mustern. Es ist ein wechselseitig zirkulärer Vorgang dieses Mustern, sowohl nach innen (Selbstbemusterung), als auch nach außen (Weltmusterung) – selbstreferenziell könnte man abschätzig sagen. Doch wie wichtig gut sortiertes und organisiertes Schubladendenken ist, vergegenwärtigen uns alle 99% richtig getroffener Urteile und »Reflexe«, die zu einer Interaktion mit unserer Umgebung führen, die uns weder in ein soziales, noch physisches Verderben stürzen.

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