Samstag, 2. April 2011

Verfahren mit „Erfahren“

»Keine Erfahrung ohne Erwartung, keine Erwartung ohne Erfahrung.« Was machen wir bloß mit unseren Erfahrungen oder was machen sie mit uns?


Man muss aus Fehlern lernen. Jeder kennt diesen Spruch und er ist schnell aufgesagt. »Aus Erfahrung gut« lesen wir. Selbst die Berliner Verkehrsbetriebe machen in ihrer mobilen »Fahr-BAR« Partyspass »erfahr-BAR«.

Das Thema »Erfahrung« zieht Aphorismen an wie ein Hochleistungsmagnet kleine Eisenspäne. Doch was ist eigentlich Erfahrung und wird man aus ihr klug?

Ich musste erfahren, dass mein Wissenszuwachs mittels Erfahrung zumindest in bestimmten Bereichen überschaubar geblieben ist. Ich stürze mich in Beziehungen, obwohl ich weiß, dass die vorherige Verbindung gescheitert ist. Ich trinke zu viel Alkohol, obwohl ich den letzten Kater noch in bester Erinnerung habe. Ja, ich kaufe sogar bei Lidl ein, obwohl ich weiß das es ein durch und durch böser Discounter ist. Was mache ich falsch?

Wohl nichts. Niklas L. aus B. ruft mir zu: „Erfahrung ist die laufende Rekonstruktion der sinnhaft konstituierten Wirklichkeit durch Abarbeitung von Enttäuschungen.“ Was will er mir bloß damit sagen? Niklas und ich verstehen uns nicht immer. Eins glaube ich verstanden zu haben. Erfahrung kann man sammeln, nach Hause tragen und wie alte Legotechnik-Bagger oder Revel-Flugzeuge in dem Regal seiner Erinnerungen verstauen. Doch dieses Regal ist nur ein Provisorium im ständigen Umbau. Laufend stelle ich Dinge um oder verrücke das Regal in meinem Erfahrungsraum.

Erfahrungen sind wandelbar, deshalb werden wir auch nur selten aus ihnen schlau. Das Bier am Freitagabend im Club schmeckt eben doch wieder verführerisch. In gemütlicher Runde erscheint die Erfahrung des alkoholischen Deliriums am letzten Sonntag nicht mehr ganz so übel. Es ist unheimlich.

Es wird noch beklemmender. Die objektive Hermeneutik sagt mir, dass sich hinter meinem Rücken eine latente Sinnstruktur zu schaffen macht. Ich habe mir so etwas schon immer gedacht. Die gesellschaftliche Struktur lebt in mir. Das ist der Stoff aus dem Musicals gemacht sind. Ein schrecklicher sozialwissenschaftlicher Fluch sucht mich heim. Rechtzeitig zum Vollmond verwandele ich mich in die Struktur und ziehe marodierend durch die Straßen Berlins.

Eher nicht. Die Erfahrung findet immer noch im Individuum statt. Ich erlebe Ereignisse und versuche sie anschließend in meine kleine Welt einzuordnen. Dennoch: Die Struktur und ich sind ein ‚sowohl als auch’. Will ich Erkenntnisse aus meinen Erfahrungen ziehen, nutze ich natürlich dazu gesellschaftliche Deutungsmuster und Sinnangebote. Nicht zuletzt bedarf ich der Sprache um meine Erlebnisse auf Begriffe zu bringen. Es leuchtet also ein, dass meine Erinnerung der Erfahrungen von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängt, unter den ich dies tue. Ebenfalls nachvollziehbar ist die Veränderbarkeit der Erfahrung im Lichte meiner Erwartungen.

Hier scheint also der Teufel im Detail zu stecken. Wir scheinen zwar aus unseren Erfahrungen zu lernen, aber eben nur so lange wie wir keine neuen Erwartungen haben. Denn wie ich mir die Zukunft vorstelle, ist immer mehr und manchmal ganz anders, als das, was ich in der Vergangenheit erfahren habe.

Vielleicht kann man deshalb aus Erfahrung nicht klug werden, sondern allenfalls zynisch. Dennoch: das Bier wird davon nicht schlecht. Ich weiß das aus Erfahrung.



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