Mittwoch, 29. April 2015

Krise und die Vorstellung von der stabilen Welt


Die Welt fällt aus der Form. Es ist für jeden sichtbar: Auf den Strassen rollen die Panzer, die Menschen versammeln sich auf den Plätzen und die neue Führung stürmt den Palast. Etwas ist in das Leben der Menschen eingebrochen und hat das sichere Gefühl vom Vortag mitgerissen. Die alte Ordnung ist dahin, ihre Rituale wirken nun seltsam fremd und man fühlt sich in ihnen nicht mehr „Zuhause“. In diesen Tagen wird ein jeder zum Zeitungsleser, weil die Hoffnung besteht zwischen den Zeilen ein Bild von der neuen Welt zu erkennen. Der eifrigste Leser ist der Händler, da er als homo oeconomicus nicht mehr weiß, was ihm nutzt. Als einer der ersten sieht er bereits, was die Regierung noch versucht zu bestreiten: das Ende der Stabilität. Er vertagt die neuen Bestellungen, hortet sein Bargeld und hält das weitere Vorgehen offen. Nicht lange und die Märkte brechen zusammen, weil auch andere Unternehmer unter dem gleichen Informationsproblem leiden. Transparenz und Prognostizierbarkeit sind in den Wirren des Wandels verloren gegangen. Das Wort der Krise macht die Runde und selbsternannte Experten zeichnen ein düsteres Zukunftsbild. Nicht lange und „die Welt (...) hat sich dem Bild gefügt, das man sich von ihr gemacht hat, und das Bild hat in einer Welt seine Bestätigung gefunden, der sich das Bild aufgeprägt hat.“

So wird die Welt erst durch ihrer Repräsentation zu einer krisenhaften, denn „wenn die Idee als Symbol repräsentiert wird, erhält sie Existenz, wird sie wirksam“. Der Gedanke an die Krise erodiert die stabilen Erwartungen der Menschen. Was vorher mit Sicherheit bestimmt werden konnte, - da es immer schon so war und deshalb auch weiterhin so sein wird, - kann angesichts des tiefgreifenden Wandels keiner mehr mit voller Überzeugung  postulieren. Die Entropie nimmt zu und die Deutungsmacht der Institutionen ab. Würde man in solch einer Welt noch das Bett verlassen? Niklas Luhmann bemerkt treffenderweise, dass wer morgens aus dem Bett steigt, in der Regel ein Mindestmaß an Zutrauen in seine eigenen Erwartungen hat. Doch wie kann man stabile Erwartungen in unsicheren Zeiten hegen? Wie gelingt es Komplexität in einem krisenhaften System zu reduzieren? Wie kann man in einer fremd gewordenen Welt vertrauen?

Die Antwort scheint banal: weil man gar nicht anders kann. Denn „eine unvermittelte Konfrontierung mit der äußersten Komplexität der Welt hält kein Mensch aus.“ Man müsste verrückt werden und mancher wird das auch in Krisenzeiten.
Dass sich Menschen während Krisen in Gemeinschaften sozial binden, ist trotzdem eine „höchst merkwürdige Leistung“. Erklärbar wird sie nur, wenn man wie Popitz davon ausgeht, dass der Mensch unter einem Zwang „sozialer Plastizität“ steht. Sich-selbst-Feststellen bedarf des Sich-Gegenseitig-Feststellens; oder so: Zur Bestimmung meiner Position brauche ich die anderen als Fixpunkte. Menschen müssen daher ihrem Miteinander Formen geben, damit ihre Vergesellschaftung als Orientierung funktionieren kann. Gemeinsam rufen sich die Mitglieder der Gemeinschaft zu, was sie richtiges oder falsches Denken halten und prägen so im Sinne Durkheims eine kollektive Vorstellung bzw. nach Fleck einen Denkstil aus, der die Komplexität auf erkennbare Formen reduziert. Den Mitgliedern liefert die Institution somit „die Kategorien, in denen sie denken, setzt den Rahmen für ihr Selbstbild und legt Identitäten fest."

Könnte man aber behaupten, dass Institutionen in der Krise obsolet werden, da sie genau diese Orientierungsfunktion verlieren? Wie viel zählt während einer Hungersnot was mir die anderen zurufen? Ist nicht der Hunger stärker als die Gemeinschaft?

Mary Douglas argumentiert, dass Hungersnöte ebenfalls ein Notsystem ausbilden. Institutionen sind also nicht absent, denn ihre Kategorien entscheiden über Leben und Tod. "Eine Gemeinschaft kann ihre vorausbestimmten Opfer die Hauptlast einer Krise tragen lassen und ihre Allokationsprobleme lösen, indem sie die Entscheidung ihren Institutionen überläßt, aber das geht nur, wenn sie diese Institutionen zuvor mit Legitimität ausgestattet hat." D.h., die gleichen Kategorien (Alter, soziale Stellung, Geschlecht etc.), die vor der Krise institutionalisiert waren, greifen auch in den prekären Zeiten der Gemeinschaft als Formen der Entscheidungsfindung. Wenn also in einem Rettungsboot die Wasservorräte nur für vier Personen reichen, dann muss bei einer Gruppe von sechs Überlebenden eine Entscheidung darüber gefällt werden, wer von ihnen nicht verproviantiert wird. Dieses moralische Dilemma kann kein Gruppenmitglied lösen, deshalb lässt man die Institution entscheiden. Je nach kulturellem Kontext wird das Urteil unterschiedlich ausfallen, aber es wird sich stets nach den zuvor institutionalisierten Kategorien richten. Einem amerikanischen Präsidenten hilft man wohl eher, meint Mary Douglas, genauso wie ein Brahamane in Indien wahrscheinlich bessere Überlebenschancen auf dem Boot hätte, als ein Angehöriger der untersten Kaste. Nach der Krise nehmen die Überlebenden ihre Opferrolle als folgerichtiges Krisenelement an. Damit bestätigen sie wiederum die soziale Ordnung.

Diese Überlegungen beruht aber auf der Prämisse, dass die Menschen ihre Institutionen legitimiert haben. Legitimation ist ein rares Gut, welches in pluralistischen Gesellschaften „stets prekär“ ist. Niklas Luhmann fragt daher zu Recht: „Wie ist es möglich, wenn nur wenige entscheiden, die faktische Überzeugung von der Richtigkeit oder verbindlichen Kraft dieses Entscheidens zu verbreiten?“ Und er liefert eine konterintuitive Antwort: Die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen bedarf überhaupt nicht der individuellen Zustimmung. Das mag zunächst verwirren, denn man ist in der Regel der Überzeugung, in seinem Leben nur dem zugestimmt zu haben, von dem man auch selbst überzeugt war. Aber schon ein Blick in den Bundestag macht deutlich: Das kann eigentlich so keiner gewollt haben. Tatsächlich ist laut Luhmann die politische Wahl eben nicht die Auslese der besten Repräsentanten für die zu vergebenen politischen Ämter, sondern eine Ausdifferenzierung des politischen Systems. Ein Verfahren also, dass den Einzelnen dazu bringt Entscheidungsmotive zu eliminieren. So absorbieren Wahlen z.B. Protestmotivationen, da sie eine plausible Handlungsalternative zum Steine werfen bieten. Wenn ich also in meinem Verdruss und aus Protest über die aktuelle politische Lage die Grauen Panther wähle, bin ich mit meinem Wahlverhalten immer noch im Verfahren der politischen Wahl aufgehoben. Denn ich bekräftige mit meinem energischen Kreuz für eine Gerontokratie nicht nur meine Protestabsichten, sondern vor allem das politische System. Legitimität erzeugen Wahlen also höchstens für die politische Institution.
Die Form des Verfahrens induziert die Anerkennung der Entscheidung, in dem sie die individuelle Überzeugung in eine allgemeine Akzeptanz überführt. Das Verfahren ist bei Luhmann begrifflich weit geführt und lässt sich auf drei Prämissen herunterbrechen: Erstens muss es durch Rollentrennung und soziale Normen als Handlungs- und Kommunikationssystem institutionalisiert sein. Es muss zweitens in seinem Ablauf autonom sein, um eine eigene Verfahrensgeschichte ausbilden zu können und drittens Raum für die Austragung von Konflikten bieten. Dann wird es für den Einzelnen attraktiv an den sozialen Rollen mitzuwirken, die das Verfahren bietet. So bald er sich in das Verfahren verstrickt und Teil des Rollenspiels wird, gibt er bestimmte Verhaltensalternativen auf, die nicht mit seiner Verfahrensrolle in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Komplexität der Entscheidungssituation nimmt also ab, weil alle Beteiligten ihr Verhalten mit dem Verfahren abstimmen und ihr Handeln kalkulierbarer machen. Dadurch finden „Verfahren [...] eine Art generelle Anerkennung, die unabhängig ist vom Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung, und die Anerkennung zieht die Hinnahme und Beachtung verbindlicher Entscheidung nach sich.“ Der Verfahrenausgang wird damit für den Einzelnen psychisch konsumerabel, weil es ein generalisiertes Ergebnis darstellt. Die heimliche Logik des Verfahrens ist also „durch die Verstrickung in ein Rollenspiel die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren zu können.“ Die Ablösung von der Selbstdarstellung und die Annahme vorkonfigurierter Verfahrensrollen ermöglicht also nicht nur das Austragen von Konflikten, sondern auch die Beilegung der selbigen.

Lässt sich die Krise etwa mit Verfahren überwinden? Hansjörg Siegenthaler stellt fest, dass „die Krise zunächst nicht dadurch beigelegt wird, dass die Welt realiter in Ordnung gebracht würde, sondern ebenso, dass man sie in einer Weise in die Ordnung des Denkens rückt, die dem Einzelnen den Ort wieder klar macht, den er in ihr hat [...]“. Die Welt muss wieder in eine Form gebracht werden, denn Form heißt „Gleichgewicht“. Dafür braucht es kein Altruismus, sondern Kommunikation. Im Gespräch orientieren sich die Orientierungslosen und im Austausch finden sie halt in gemeinsamen Erfahrungen oder geteilten Zukunftsperspektiven. Es entsteht ein neues Selbst- und Weltverständnis, das stabilisierend in die Gesellschaft rückwirkt. Indem die Menschen auf die Straße laufen, sich unterhalten und die konkreten Krisenphänomene ansprechen, bringen sie gemeinsame Erfahrungen auf Begriffe. Der Austausch bewirkt „ein Prozeß vertrauensstiftender Restabilisierung in einer Sequenz und in einem Wirkungszusammenhang von Handlungen, die nicht auf Stabilität abzielen, sondern diese als eine nicht beabsichtigte Handlungsfolge herbeiführen.“ Verkürzt gesagt: Wenn wir miteinander über die Krise reden, dann befinden wir uns bereits in der Phase der Stabilisierung. In dem Moment des Gesprächs stehen wir einander gegenüber und können auf „die Gleichzeitigkeit der korrespondierenden Handlungen“ bauen. Mit der Zeit und erfolgreicher Kooperation in Kopräsenz erwächst eine unterstellte Verlässlichkeit auch in Abwesenheit des Anderen, die man ihm aufgrund positiver gemeinsamer Erfahrungen zuschreibt. „Aber Vertrauen ist keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft“, ließe sich mit Luhmann einwenden. In unseren vertrauensvollen Erwartungen spiegelt sich folglich die Stabilität der sozialen Ordnung. Denn es bleibt eine riskante Vorleistung, die wir nur gewillt sind zu erbringen, wenn wir Zuversicht in die Kontinuität der wahrgenommenen Welt haben. Doch woher kommt die Zuversicht, wenn wir der Welt immer nur mittelbar entgegentreten können? Sie generiert sich aus der Interpretationsleistung an Symbolen und fasst die Dinge in „Symbolkomplexe“ zusammen, die kontrollierbar werden. In ihren symbolischen, emblematischen und rituellen Ausdrucksmitteln repräsentieren sie und formen die Ordnungsschemata und ihre Deutungen.
Hier schließt sich der Kreis, denn in den Repräsentationen manifestiert sich nicht nur die Krise, sondern auch ihre Stabilisierung. Da eine symbolische Form für jeden Menschen in jeder Situation Bedeutung generieren kann, findet eine Stabilisierung nur statt, wenn meine Vorstellung von einer stabilen Welt ebenfalls von meinen Mitmenschen geteilt wird. Ob man das nun Leitidee, Verfahren oder Regelvertrauen nennt: nur im Gemeinsamen lässt sich Stabiles etablieren, und nur im Gespräch lässt sich Gemeinsames erkennen.


Freitag, 1. Februar 2013

Zungenbrecher. Vom Wiederkauen der Liebe.

»Ich glaube, ich kann die Sätze nicht mehr sagen und nicht mehr hören, die im Verlauf einer Liebesaffäre ausgesprochen werden müssen.« Das lässt Wilhelm Genazino einen seiner lakonischen Romanfiguren über die Untiefen zwischenmenschlicher Intimbeziehungen resümieren. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie kann ich etwas Einzigartiges wiederholen?

An anderer Stelle schrieb ich bereits über Erfahrung und von der optimistischen Naivität, mit der man sich in neue Beziehungen begibt, obwohl man um das Scheitern der vorherigen weiß. Mahnt es einen nicht, vorsichtiger mit seinen Worten zu sein? Ist ihnen überhaupt zu trauen?

Vielleicht findet man bei Niklas L. Klarheit über diese Frage?
»In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.«
- Nein, Klarheit findet man bei ihm nicht. Aber er bestätigt mein Gefühl, dass ich bei manchen Pärchen bekomme, die in ihrer eigenen primordialen Ursprache miteinander sprechen. Sie sitzen mir meist in der U-Bahn säuselnd gegenüber und unterstützen den gehaltlosen Lautaustausch mit affirmativen Küssen. Letztere werden gern von einem summenden Ton begleitet und in zunehmender Frequenz dargeboten. Es hat etwas von einem Ritual der Bekundung der gemeinsamen Zugehörigkeit unter den Blicken der Anderen. Meist bin ich davon peinlich berührt, schaue auf meine Hände und frage mich: Meinen die das ernst?

Ein Gespräch findet immer unter der Prämisse statt, dass Wahres mitgeteilt wird. Doch in einer Intimbeziehung ist das Wahre nicht immer das Gesagte. Die gemeinsame Unterhaltung ist immer um ein Miteinander bemüht und möchte überbrücken, was Teil einer jeden Beziehung ist: Instabilität. Sind also die berühmten drei Worte nicht bereits ein Verweis auf das Ende ihrer Aussage?

Nicht unbedingt. Man sollte behutsam mit seinen Worten umgehen, denn sie verlieren schnell an Bedeutung, wenn sie an falscher Stelle, zum falschen Zeitpunkt oder einfach zu häufig artikuliert werden. Doch sind wir glücklicherweise in Beziehungen nicht nur auf die Sprache zurückgeworfen. Das Unbehagen gegenüber dem gemeinsamen Sprechen ist nämlich berechtigt, aber zu vernachlässigen.
Denn es sind nicht die Sätze, die uns verzaubern, sondern der dahinter liegende Gedanke, der uns berührt, weil er aus einem Gefühl entspringt, dass wir denken, mit unserem Partner zu teilen. Der Weg zu diesem Gefühl ist ein weiter und er führt meist über vertraute Gedankenwege und bekannte Sprachmuster. Aber eben nicht nur: Tanzen, Blicken, Schwitzen und Singen gehören ebenfalls dazu. Zwar sind wir sprachliche Wesen, aber wir müssen die Welt nicht ausschließlich auf Begriffe bringen, um sie zu erfahren. Der Ort der Liebe ist nicht ausschließlich der Kopf, dass möchte man dem depressiven Mann aus Genazinos Roman zurufen. Dann tanz doch einfach Deine Liebeserklärung! Denn Tanzen heißt Liebe mit den Füßen suchen.

Donnerstag, 22. November 2012

Von der Rede über das Scheitern und den glücklichen Autisten.


Alle Mitglieder haben sich versammelt. Die Kunde vom Ende hat sich herumgesprochen und langsam setzt sich die Erkenntnis des Scheiterns in den Köpfen der Menschen. Jetzt wartet man nur noch auf den rituellen Abgesang des hohen Priesters, der doch so sichere Erwartungen verkörperte und dem man so gerne geglaubt hat. Das ist er also: der Unterschied zwischen einem Plan und einer Hoffnung. Ein Plan hängt nicht von anderen ab, sonst ist er eine Hoffnung. Verständlicher pflegte es meine Oma zu sagen: „Junge, verlässt Du Dich auf andere, dann biste verlassen.“ Oma war viel schlauer, als ich es jemals werde. Das wird mir schlagartig klar, als ich in die betretende Runde schaue und über den Zusammenbruch nachdenke. 

Ich hätte Oma jetzt gern gefragt, wie sie es mit der primordialen Sozialität hält. Denn wir alle werden geboren, leben und sterben in einer Gesellschaft und es bleibt gar nicht aus, dass wir uns an irgendeinem Punkt mit den anderen Anwesenden auseinandersetzen müssen. Das ist dann meistens vor allem eins: kompliziert. Das Verhalten der Menschen rechts und links neben mir ist nämlich schwerlich zu berechnen. Die Anderen haben die lästige Eigenschaft ebenfalls autonom zu handeln. Täten sie das nicht, dann wäre vieles einfacher. So muss man sich fragen, ob der soziale Autist nicht ein viel schöneres Leben führt, da er gar nicht von seinen Mitmenschen enttäuscht werden kann. Tatsächlich scheint mir interpersonales Vertrauen einer Wette zu entstammen, der man sich nicht entziehen kann. Gefangen im Wettbüro des Lebens lässt es sich aber nur aushalten, wenn man manchmal auch gewinnt. Anders gesagt: Wenn das Gefühl entsteht, dass sich Vertrauen in ein Miteinander lohnt. Der Gewinn kann dann z.B. ein sorgenfreieres Leben sein, da sich Mehrdeutiges in Einfachheit auflöst. Meine Gedanken dürfen sich ein Stück langsamer drehen, weil ich meinen Blick vertrauensvoll auf eine bestimmte Zukunft richte und die Fallstricke am Wegesrand ausblenden kann. 

Doch manchmal verliert man auch. Das ist dann besonders bitter. Die sicheren Erwartungen werden von der Realität eingeholt und mit ihr kommt das Scheitern. Es folgt die Zeit für Alternativen und geschäftiges Hin und Her, als ob sich die Zukunft innerhalb von 24 Stunden festlegen ließe. Dazu gesellt sich der Vorwurf der Naivität, angesichts der Ungewissheit und Undurchsichtigkeit der Gegebenheiten so blindlings vertraut zu haben. Die Welt fällt aus der Form und jede Beileidsbekundung macht es nur noch deutlicher. Die alte Ordnung ist dahin, ihr Alltag wirkt nun seltsam fremd und man fühlt sich in ihm nicht mehr „Zuhause“. Man möchte das Bett eigentlich nicht mehr verlassen. 

Wie kann Aufstehen gelingen? Wie überwinde ich diese Krise? Hansjörg Siegenthaler lässt mich wissen, dass „die Krise zunächst nicht dadurch beigelegt wird, dass die Welt realiter in Ordnung gebracht würde, sondern ebenso, dass man sie in einer Weise in die Ordnung des Denkens rückt, die dem Einzelnen den Ort wieder klar macht, den er in ihr hat [...]“. Die Welt muss wieder in eine Form gebracht werden, oder um es mit Helmuth Plessner zu sagen: Form heißt „Gleichgewicht“. Dafür braucht es das Gespräch. Dafür braucht es die Anderen. Dafür braucht es das Miteinander.


Freitag, 19. Oktober 2012

Der Mensch, das musternde Wesen

»Von den verschiedenen Betrachtungsweisen der Welt ist eine der interessantesten die, sie sich aus Schemata [patterns, i.O.] zusammengesetzt zu denken.« (Nobert Wiener (1952): Mensch und Menschmaschine, S.15)

Ohne viel Aufhebens meinte neulich, nach Abschluss eines Kennenlerngesprächs, nicht ohne etwas Empörung in der Stimme, jemand zu mir: »Der hat dich ja ganz schön gemustert!« Was der alltägliche Sprachgebrauch an Vokabeln überhört, hinterlässt in schriftlicher Betrachtung ein anhaltendes Staunen – zumindest bei mir. Was meinte die Person damit? Was hat die angezeigte Person denn getan? Was hatte die betroffene Person – also ich – auszuhalten? Ohne Zweifel scheint es eine nicht gänzlich ungewöhnliche Situation gewesen zu sein. Ein Gespräch mit Fragen und Antworten, Denkpausen – gewollt/ungewollt –, kleineren Scharmützeln und Indiskretionen. Hinter dem Begriff der Frage allein steht freilich eine ganze Typologie, die zwischen völliger Belanglosigkeit, Böswilligkeit und Interesse bis Gier vermittelt. In diesem Falle waren es hauptsächlich Nachfragen oder auch Suggestivfragen, die zum einen nur Zur-Schau-Stellung des Wissens, zum anderen eigene Positionierungen aufdecken sollten. Wenngleich kein polizeiliches Verhör, so doch unangenehm.

Was in dieser Situation in nicht allzu diskreter Weise vollzogen wurde, ist aber unser einzig möglicher Zugang zur Welt. Was in der Betrachtung der Dingwelt zu wissenschaftlicher Anerkennung führt, stößt in der Mensch-Mensch-Kommunikation auf Ablehnung, sobald Akribie und Konsequenz augenscheinlich werden. Wir mustern. Egal in welcher Situation versuchen wir die Wiederholung ausfindig zu machen, die in unsere bisher gemachten Erfahrungen einzuordnen ist. Der Philosoph Oswald Schwemmer erklärte dazu sinngemäß, dass wir die Welt immer durch das Muster unserer gemachten Erfahrungen hindurch wahrnehmen. Wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, sprechen, etc. also immer das mit, was wir schon gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt, gesprochen, etc. haben. Was für ein Ballast! Es ist informationstechnologisch kaum vorstellbar, was wir dabei im Arbeitsspeicher parat haben müssten. Doch gemeint scheint hier eher das permanente Aktualisieren, Rejustieren oder Zerstören einer sinnstiftenden Ordnung in der Art einer am Ende doch irgendwie abstrakteren Form zu sein. Die körperlichste dieser internen Musterungen ist seit Jahren en vogue und trägt deshalb gerne neudeutsche Namen wie: tacit knowledge oder embodiment cognition. Unsere Erfahrungen sedimentieren also auch in körperlichem, zumindest wohl unbewusstem Wissen, das Handlungskompetenz fast in Form von Reflexen habitualisiert. Unsere interne Musterung (oder sollte man schon Maserung sagen?) ist nicht ausweglos. Immer wieder können wir lernen, uns neu zu strukturieren. Eigentlich erhält dieses System nur in seiner Bewegung Stabilität. Ohne steten Zustrom an Instanziierungen, also Aktualisierungen von etwas, und dem Erkennen deren Abweichungen verlieren wir auf wundersame Weise unsere Prägung. Vielleicht nicht schnell genug für ein Menschenleben, wenn es um das Fahrradfahren oder ähnliche in jungen Jahren erworbene Einprägungen geht, aber in jedem Falle schnell genug, um an Können in ausgefeilteren Techniken einzubüßen, die permanentes Training erfordern. Welch pathologische Ausprägungen unsere Musterungen annehmen können, belegen nicht nur wahnwitzige Auswüchse des Kraftsports, bei denen es scheint, als ob die Betroffenen außer Stoßen und Reißen keine andere Körpertechnik mehr ausführen könnten. Die Psychopathologie des Musterns per se inszenierte Ron Howard in „A Beautiful Mind“ am Beispiel des mathematischen Spieltheoretikers John Forbes Nash, der in der filmischen Adaption der Realperson Russell Crowe zu entsprechen versucht. Nashs Psyche scheitert im Film an den zwangsläufig fehlgehenden Versuchen, alle innerweltlichen Erscheinungen in mathematischen Mustern zu beheimaten. Wie nahe diese Exzentrik trotzdem unserem alltäglichen Blackout ist, wenn Welt und Vorstellung nicht mehr kongruent sind, haben vielfältigste Experimente belegt. Allein das Fehlen eines akustischen Signals (Motorgeräusch) zu einem als zugehörig eingestuften visuellen Signal (fahrendes Auto) kann zum Totalversagen unserer Handlungskompetenz führen. Nur kleine Dosen der Rejustierung unserer internen Landkarte sind also verdaubar, ohne das gesamte Weltbild aus den Angeln zu heben. Möglicherweise sind bestimmte vor-/frühkindliche Prägungen besonders dafür geeignet, wobei sich die Forscher bis heute darüber streiten, ob sie nun genetisch oder sozial vererbt werden – z.B. die Chromakartierung unseres Hörens in Oktaven –, im Falle einer notwendigen Remusterung, zu Systemabstürzen zu führen.

Letztlich wird deutlich, dass der Mensch als musterndes Wesen, also indem er seine Welt in Muster gliedert und wahrnimmt, sich selbst Muster gibt, die wiederum die Welt (be-)mustern. Es ist ein wechselseitig zirkulärer Vorgang dieses Mustern, sowohl nach innen (Selbstbemusterung), als auch nach außen (Weltmusterung) – selbstreferenziell könnte man abschätzig sagen. Doch wie wichtig gut sortiertes und organisiertes Schubladendenken ist, vergegenwärtigen uns alle 99% richtig getroffener Urteile und »Reflexe«, die zu einer Interaktion mit unserer Umgebung führen, die uns weder in ein soziales, noch physisches Verderben stürzen.

Sonntag, 15. Januar 2012

»Der Aufstand der Dinge«

(nach Erhart Kästner: Aufstand der Dinge, Frankfurt/Main 2009)

Lebten wir bisher in einer Welt der Menschen, höchstens noch der Götter, scheint nun Aufruhr nahe. Die Dinge rebellieren. Sie fordern in ganz demokratischem Selbstverständnis ihr Recht auf Mitsprache ein. Bisher hatten wir dies nur in Ansätzen gespürt. Der Herd hat uns schon verfolgt, ist als Ding aufsässig geworden, ganz im Sinne Heideggers, als er uns vor der Haustür zur Umkehr zwang, um uns zu vergewissern, dass er tatsächlich ausgeschaltet ist. Nun werden die Dinge aber immer rücksichtsloser. Der Computer streikt, das Internet funktioniert nicht. Die Dinge stören uns in unserem Alltag. Sie zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie nicht zuhanden sind (Heidegger:2006:§15).Was sind wir bloß ohne unsere Dinge, unserem schlafenden 4.Stand? Die Dinge werden sich ihrer Macht über uns bewusst. Allein unser Blick genügte stets, um die Dinge zur Räson zu bringen, was uns die Toy Stories immer wieder balsamartig beruhigend nahebrachten, in manchem gar die ignorante Idee einer Fiktion aufkeimen ließ. In frühen Zeiten haben wir den Klassenkampf mit unserer Umwelt für uns entschieden. Ja, je unbelebter wir unsere Umgebung machten, je stärker wir die Grenze zwischen dem Mensch und allem anderen zogen, umso beherrschbarer schien uns die Welt. Nun, da wir im festen Glauben der Unumstößlichkeit dieser Weltordnung waren, sind wir plötzlich erschrocken darüber, wie weit uns die Dinge über den Kopf gewachsen sind. Die Komplexität der Dingwelt hat uns abgehängt, die Geister in der Maschine, die Maxwell'schen Dämonen, sie alle führen den Aufstand der Dinge an. Wir sehen uns heute noch nicht als Produkte in einem Weltladen namens »Men'R'Us«. Die Propheten unseres Untergangs sind mit Latour & Co. indes längst gefunden. Doch scheint es erstaunlich, wie lange heimliche Befürchtungen über das Unheil schon schwelten. Max Eyth beschreibt in seinem Vortrag über Poesie und Technik von 1924, wie der nackte, wehrlose Mensch nach dem Sündenfall auf Erden weilt. Eine traurige Gestalt, die nur eine Chance in ihrer beschränkten Ausstattung hat.
»Auf Wissen und Können, auf Wort und Werkzeug beruht die Macht, die den nackten, wehrlosen Menschen zum Herrscher über alles Lebende auf Erden gemacht hat.« (Eyth:1924:12)
Gedanklich kaum mehr als einen Fuß breit entfernt, führt Ernst Cassirer diesen Gedanken weiter:
»Der ›Logos‹ selbst, als Ausdruck der eigentümlichen Geistigkeit des Menschen, erscheint somit hier nicht lediglich in ›theoretischer‹, sondern in ›instrumentaler‹ Bedeutung. Und darin liegt zugleich implizit die Gegenthese beschlossen, daß auch in jedem bloß stofflichen Werkzeug, in jedem Gebrauch eines materiellen Dinges im Dienste des menschlichen Willens, die Kraft des Logos schlummert.« (Cassirer:1930:26)
Das war 1930! Mit Wort und Werkzeug »instrumentalisieren« wir uns zum Herrscher der Welt. Um uns die Natur untertänig zu machen, reichen die Wissenschaften – von den frühesten zu den spätesten – und die Technik aus. Überschwänglich feiert in Zeiten des Klimawandels und der sich dem Ende neigenden Ressourcen diesen Siegeszug keiner mehr. Wir wollen ja lieber wieder den Weg zurück in den Schoß der Natur finden, aber selbstbestimmt, 2.0 wenn man so will, user-generated nature. Doch die nächste, vielleicht letzte Kränkung der Menschheit nach Kopernikus, Darwin und Freud lauert in den Dingen, die wir zur Bezwingung der Natur erfunden haben, selbst. Das ist es, was uns Cassirer wohl sagen wollte, wenn er mutmaßte, dass wir den Logos nicht in die Dingwelt pflanzen, sondern ihn dort bereits vorfinden. Die Vorstellung ist beinahe gruselig, dass wir den »schlummernden Logos« der Materie erst geweckt haben. Wir waren alle ein wenig Dr. Frankenstein. Der Verdacht war schon immer gehegt worden, dass diese Narrative nicht aus dem Nichts auf uns herab fielen. Und nun ist die Spirale wohl nicht mehr aufzuhalten? Je mehr wir die Technik vermenschlichen, je intelligenter wir sie machen, umso näher rückt jener Tag, an dem wir hinter unserem Handeln als prozessierbare Mittler verschwinden und die kreativen Knoten Dinge werden – Entitäten im vollkommenen Sinne. Der Aufstand der Dinge ist wohl doch leiser, als das Science Fiction Genre nahelegte.

Sonntag, 24. Juli 2011

»Isch bin Hermannplatz« - Der Raum schlägt zurück


Es ist wieder passiert. Die Theorie schlägt zurück und drängt sich in mein Alltagsleben. Es ist mit ihr wie mit Fahrschulautos, die man überall sieht, so bald man den Führerschein macht. Nun sitzt sie mir in der U-Bahn gegenüber. Sie hat ein lustig bemaltes Gesicht in dem etwas rechts über der Oberlippe ein metallenes Popelpiercing glitzert. Nein, ich hatte sie mir nicht in weißen Stiefeln und mit langen Fingernägeln vorgestellt, als ich von ihr las. Doch als sie ihr mit Strasssteinchen besetztes Telefon herausholte und dem Anrufer ihre Identität verriet, fiel ich aus allen Wolken. »Isch bin Hermannplatz. Ja, was? ... Na, Hermannplatz. Ok. Bis gleisch.« Da war sie: die Raumtheorie. In nur so wenigen Worten war alles gesagt: »Ich bin Hermannplatz.« So klar und deutlich hatte ich es in keinem der verschrobelten Theorietexte gelesen.
Dort las ich von »institutionalisierte Figurationen auf symbolischer und materieller Basis, die das soziale Leben formen und die im kulturellen Prozess hervorgebracht werden«. Das kann verstehen wer will. Doch wie verstand es meine schwarzhaarige Schönheit in der U7?

Ich glaube, ihr wurde in einem Moment absoluter Klarheit bewusst, dass die Dinge, die Menschen und ihre Handlungen in ihrer Anordnung den Raum bilden. In dem transitorischen Vehikel Untergrundbahn konnte die geheimnisvolle Dame eine grundlegende metaphysische Erkenntnis erzielen. Raum heißt sozialer Raum. Genauer gesagt: er ist Prozess. Raum finden wir nicht einfach vor, sondern gestalten ihn mit. Wo ich die räumlichen Grenzen ziehe, hängt ganz entscheidend von meiner Wahrnehmung und meiner Erfahrung ab. Denn ein homogener Raum, der für alle und jeden gleich wäre, muss erst noch gefunden werden.
Die U-Bahn-Begegnung zeigte mir: Es gibt mehr als einen Raum! Deshalb müsste der Begriff eigentlich immer im Plural stehen. Ich war ja schließlich auch Hermannplatz. Zumindest stieg ich dort zu. Aber bin ich wirklich Hermannplatz? Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall bin ich Rosenthaler Platz, denn dafür trinke ich zu wenig Latte macchiato. Gerne wäre ich mal Friedrich-Wilhelm-Platz, aber die Zeiten sind ja vorbei. Ich denke, ich bin wohl eher so Wittenbergplatz: so etwas neutrales halt, aber ganz gut angebunden.
Mein Gegenüber war hingegen völlig Hermannplatz. Ich glaube, hätte ich sie gefragt, ob sie gerne Hermannplatz ist, dann hätte sie das sicherlich bejaht. Wie las ich es bei Martina Löw noch so lehrreich:
»Identitätszuschreibung erfolgt über die Eingliederung in Räume sowie umgekehrt Raum nicht mehr von der Aktivität des Konstituierens und damit von einer Handlungspraxis losgelöst werden kann.«
Doch weit mehr als bei Martina erfährt man über den Raum »Hermannplatz« in den schmissigen Liedern von Bass Sultan Hengzt. Ich glaube fast, er hatte eingehend über Raumtheorie kontempliert, als er folgende Zeilen dichtete:

»Du bist hier Fehl am Platz | Ich sehs in deine Augen du hast schiss vorm Hermannplatz Nutte | Du hast vor den Seitenstraßen Angst | Ich mach dass du wie ne Seifenblase platzt«.

Unvergleichlich macht Fabio Ferzan Cataldi alias Bass Sultan Hengzt ganz deutlich wie die Handlungspraxis auf die Konstitution des Raumes und auf die Identitätszuschreibung der Akteure wirkt. Der Hermannplatz wird zum Akteur vor dem man sich fürchten muss. Die Platzsituation in Neukölln ist der Agens und das Individuum der Patiens. Und wenn es Stress gibt, dann holt Hermannplatz noch seine Seitenstraßen und dann geht’s ab. Man möchte da wirklich nicht aussteigen. Es sei denn man kennt Bass Sultan Hengzt. Ich finde, der Deutschrap wird in seiner Tragfähigkeit für die soziologische Theorie unterschätzt. Aber das wäre ein anderer Beitrag.

Schließlich ist noch zu berichten, dass meine geheimnisvolle Schönheit in Neukölln ausstieg. Kurz darauf erhielt ich einen Anruf von meiner Verabredung mit der Nachfrage, wo ich denn bleibe. Ich versicherte, dass es nicht mehr lange dauern könnte. »Ich bin ja schließlich schon Neukölln.«

Freitag, 29. April 2011

Fleet Foxes - Helplessness Blues

Lange war es still geworden um die Fleet Floxes. Die Folk-Band aus Seattle hatte 2008 das Revival des Genres maßgeblich mitgestaltet. Nun erscheint ihr lang ersehntes zweites Studioalbum „Helplessness Blues“. Die gleichnamige Single rotiert schon seit ein paar Wochen in der Radiolandschaft, der Longplayer kommt aber erst heute auf den Markt.

Die beruhigende Nachricht zu erst: Die Fleet Foxes bleiben sich treu! Wer Angst hatte, sie würden auf ihrem zweiten Album die Flucht aus ihrer Schublade antreten, der darf aufatmen. Trotz aller Hippie-Stigmatisierung sieht der Frontmann Robin Pecknold keinen Grund zur musikalischen Rebellion.

Robin Pecknold:
"Bei der ersten Platte sagten die Leute immer: 'Oh, Hippies!' Entweder nimmt man es an und denkt: 'Ich möchte nicht, dass die Leute so was noch mal sagen.' Und dann macht man es ganz anders. Oder man sagt sich: 'Mir ist egal was die Leute sagen. Das wollen wir machen und daran glauben wir. Also machen wir es auch!'"

Gesagt, getan? Von wegen, volle drei Jahre hat es gedauert, bis der neue Longplayer endlich im Regal steht. Nach ausgiebigen Touren und einigen Sound-Experimenten wusste Pecknold nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Erst als Joanna Newsom ihn bat, solo ihre Shows zu eröffnen, fand er zurück zum gewohnten Songwriting: starke Texte mit eindringlichen Melodien. Dazu arrangierte die Band vertraute Stilelemente. Die Akustik-Gitarren werden gezupft und der Hintergrundchor haucht offenen Vokalen sakrales Leben ein, bis der stampfende Rhythmus der Kesselpauke einsetzt.


Doch so einfach ist es auch wieder nicht. Nach dem ersten Song „Montezuma“ wird schnell deutlich, dass sich doch etwas geändert hat. Schon im nächsten Lied „Beduin Dress“ fiedelt es neuerdings munter zur Slide-Gitarre. Im Laufe des Albums bekommt man dann eine ganze Reihe neuer Instrumente vorgestellt; unter ihnen sind so exotische wie tibetische Klangschalen oder das Marxophon. Kein Problem für den geneigten Hörer, ein paar Klangexperimente gehören zum zweiten Album eben dazu. Doch dann schrammelt die Akustik-Gitarre auf einmal in bester Woodstock-Orgiastik. Bald staut sich Songfragment an Songfragment zu Collagen von ganzen 8min Länge auf. Spätestens an diesen Stellen werden dem idyllischen Hörvergnügen einige Strapazen zugemutet. Da bekommt die harmonische Nostalgie ihre ersten Risse.

Robin Pecknold:
"Verglichen mit dem ersten Album ist die Platte offener. Es geht nicht darum die Vergangenheit zu idealisieren. Es ist einfach mehr in der Gegenwart. Wir wollten ein Album ohne moderne Einflüsse machen, aber dabei nicht direkt nach den 60ties klingen."


„The Shrine/An Argument“ kann man als Albumminiatur begreifen. In 4 Fragmenten durchlebt man hier nicht nur die Stationen eines dramatischen Beziehungsendes. Man durchschreitet auch das musikalische Repertoire der Fleet Foxes. Neben Simon & Garfunkel und Midtempo-Hymnen bietet das jetzt noch Klangvirtuoses an. Doch bricht die Idylle auch an einigen Stellen auf, bleibt der größte Teil von „Helplessness Blues“ die ersehnte akustische Wohlfühldecke. In „Blue Spotted Tail“ verzichtet man sogar auf den typischen Kirchenhall und Robin Pecknold kriecht einem direkt ins Ohr. Einmal eingenistet, kann er dort auch mal ein paar ganz persönliche Fragen loswerden.

"Why in the night sky are the lights on?"
"Why is the earth moving round the sun?"
"Why is life made only for to end?"

Robin Pecknold:
"Mir war es sehr wichtig, dass die Texte auf der Platte deutlicher und direkter sind. Das wollte ich im Vergleich zum ersten Album anders machen, denn da waren die Texte nicht für jeden klar. Selbst mir waren sie nicht immer klar verständlich. Für diese Art von Musik ist es gut, klare Bedeutung hinter den Sachen zu haben. Das war diesmal mehr ein Fokus als auf dem letzten Album. Also Texte, die mehr aussagen als nur zu dem Vibe und dem Gefühl der Musik zu passen."

So entstehen autobiographische Erzählungen, in denen die Wirklichkeitstreue äußerst ernst genommen wird: „I saw you among the crowd in a geometric patterned dress.“ Viel nüchterner kann man die Begegnung mit dem Objekt der Begierde wohl nicht beschreiben. Von seinen Inspirationsquellen der 60er und frühen 70er Jahre löst sich Pecknold damit endgültig ab. Die waren nämlich – allen voran Bob Dylan – stets damit beschäftigt, sich so gut wie möglich eindeutigen Interpretationen zu entziehen. Dem lyrischen Gehalt von „Helplessness Blues“ schadet diese Herangehensweise nicht. Die Fleet Foxes haben die Bedürfnisse ihrer Fans fest im Blick, auch in Bezug auf ihre Live-Show. Denn sie wollen nicht nur, dass die Leute verstehen, was sie mitsingen, sondern auch der vergeistigten Bewegungsfeindlichkeit vorbeugen. Schmissige Uptempo Nummern wie „Grown Ocean“ haben das Potential, den Besuchern Mumford&Sons-Momente zu bescheren. 


Robin Pecknold:
"Ich denke, dass es muskulöser sein wird. Wir wissen, wie sich das Album anhören soll, wenn es die Leute zu Hause hören. Aber wir hatten auch in unserem Hinterkopf, wie wir die Songs live raushauen. Es wird lustig werden, sie dann laut und verrückt live zu spielen. Das wird eine intensivere Live-Erfahrung werden."

Zum Laut- und Verrücktsein haben die Fleet Foxes in den nächsten Monaten mehr als genug Gelegenheit. Ihre Welttournee bringt sie Ende Mai auch nach Deutschland. Bis dahin sollte man die Zeit nutzen, um sich tiefer und tiefer in „Helplessness Blues“ hineinzuhören. So ohnmächtig, wie der Albumtitel behauptet, ist die Musik der Fleet Foxes nämlich keineswegs. Auch wenn es insgesamt mehr Aufwand bedarf, sich mit dem Album vertraut zu machen, ziehen den Hörer doch einige Ohrwürmer sofort in den Bann. Von diesen Einfallstoren aus, erschließt sich das ganze Werk dann Stück für Stück. Ein typisches zweites Album eben, etwas facettenreicher und ausdifferenzierter. Was die Einen reifer finden, fehlt den Anderen an Hits. So trennt es fein säuberlich die Fans von den Hype-Anhängern. An Einfühlbarkeit und Harmonie allerdings steht es seinem Vorgänger in nichts nach.